Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. Gesammelte Werke und Tagebücher. 31. Abt. Bd. 21
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Kierkegaard stand in seiner geistigen und künstlerischen Entwicklung zunächst stark unter dem Einfluß der deutschen Romantik. Bei seiner Auflehnung gegen den Vater verstand er sich, ein echter Romantiker, als schöpferisches Individuum, das sich durch herrschende Konventionen in seiner geistigen Entfaltung Schranken nicht setzen läßt. Ein Leitbegriff einer solchen romantischen Protesthaltung war die Ironie, aufgewertet zu einem allgemeinen geistigen Prinzip: Wirklichkeit ist für das geniale Individuum nur das Spielmaterial für seine zweckfrei bis ins Unendliche immer wieder neu gestaltende und jede Gestaltung wieder in Frage stellende Phantasie, den Darstellungen der aesthetischen Lebensanschauung im I. Teil von "Entweder-Oder" und im Gastmahl der Pseudonyme in den "Stadien auf des Lebens Weg" (s. 1. und 15. Abteilung der "Gesammelten Werke") hat sie die Grundmelodie gegeben. Doch hatte er das Lebenszerstörende einer schrankenlosen Protesthaltung bald erkannt. Andererseits blieb ihm die Eigenständigkeit der Persönlichkeit ein unverzichtbarer Gedanke. Da mußte es ihm ein Anliegen sein, die so als Prinzip weiterhin wichtig genommene Ironie seinem Gesamtbild geistiger Orientierung einzuordnen. Dieser Aufgabe widmet er sich nun mit seiner Dissertation.Die erste Persönlichkeit der Geistesgeschichte, die sich zur Ironie als einem Prinzip geistiger Wirksamkeit bekannt hat, war Sokrates. Sie ist bei ihm eine Kunst der Lenkung des Dialogs durch Fragen, bei denen er sich als unwissend bekennt oder unwissend stellt mit dem Ziel, Unklarheiten und Widersprüche im bisher geltenden Wissen und Denken aufzudecken und dies so als ungültig, als Unwissenheit zu enthüllen. Radikale Vertreter der romantischen Ironie beriefen sich deshalb auf ihn als ersten und größten Vertreter absoluter Negativität menschlicher Erkenntnis, Hegel dagegen sieht diese Zerstörung des bisher als gültig angenommenen Denkens nur als den notwendigen ersten Schritt auf dem Weg zu besserer Einsicht. Bei Versuchen, diese Frage zu klären, verwickelt man sich unvermeidlich in die endlose Auseinandersetzung darüber, inwieweit in den Dialogen Platos, die dafür die Hauptquelle unseres Wissens sind, der "Sokrates" eigene Gedanken ausspricht oder aber dem Denken Platos als Sprachrohr dient. Ein Hauptinhalt der Dissertation ist es nun, für dies Problem eine Lösung zu entwickeln. Als Schlüsselgedanke dient dabei die Annahme, daß Sokrates selbst die ihm von Romantikern zugeschriebene Auffassung der "Ironie als unendliche absolute Negativität" vertreten habe, während Plato versucht, nach der so bewirkten Zerstörung des überkommenen Denksystems ein neues aufzubauen. Zugleich wird jedoch der Sinn dieser Auffassung der Ironie in der Weltgeschichte des Geistes gegen die nihilistische Auffassung bei radikalen Romantikern neu bestimmt: "Dies eben ist die Bedeutung des Sokrates, welche von Hegel und erst recht vom Hegelianismus nicht erkannt worden ist, daß er mit der absoluten unendlichen Negativität der Ironie eine Beruhigung und Erstarrung des Humanen in substantieller Sittlichkeit und erst recht in objektiver Wissenschaft verhindert, daß er im Humanen die mit Tod versehrende Krise aufdeckt, in der allein Freiheit und Persönlichkeit vor einem Untergang im allgemeinen geschichtlichen Dasein bewahrt werden können. Die tiefe Not des Humanen aber ist es, daß diese Ironie, wenn sie ... das Letzte des Menschen zu werden beginnt, das Verhältnis zu Leben und Wirklichkeit zerstört. Darum wird es für Kierkegaard nötig, das Ja zum Ironiker Sokrates durch ein Nein zur dämonisierten Ironie der radikalen Romantik zu ergänzen. Ironie muß beherrscht werden, wenn sie dem Humanen ihren Dienst tun soll." (E. Hirsch in der Einleitung) Die richtig verstandene Ironie widerlegt alle Versuche des Menschen, seiner Existenz aus eigener geistiger Kraft einen letzten Sinn zu erringen, daß er diesen Sinn nur als Gabe Gottes empfangen kann, wird angedeutet. - Die Dissertation erweist sich so als das erste große Dokument der Entwicklung des religionsphilosophischen Denkens Kierkegaards. Hier hat er sein großes Thema, das Verhältnis des Humanen zum Christentum, gefunden, hier beginnt die tiefgründige Auseinandersetzung mit Hegel, die in allen seinen philosophischen Werken ein Hauptthema bleibt. Sehr reizvoll ist es, die Entwicklung von Sprache und Stil innerhalb dieser Schrift zu beobachten: zu Beginn oft schwerfällig und umständlich, gewinnen sie von Kapitel zu Kapitel an Eindruckskraft und Grazie, die letzten Abschnitte zeigen mit großzügiger Gedankenführung wie mit ihren geistvollen Formulierungen schon den reif gewordenen Meister.
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