Innensichten. Aussensichten. Einsichten
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Wahrscheinlich hat kein einziger linguistischer Terminus der Ära nach F. de Saussure eine so schnelle und weite Verbreitung und Anwendung gefunden wie das so unscheinbare anglo-amerikanische Paar "etic" und "emic", das als "etisch" und "emisch" die deutsche Wissenschaftssprache bereicherte. Die sonst so undurchlässigen Disziplinengrenzen mißachtend ist es in fast allen Geistes- und Sozialwissenschaften heimisch geworden - allerdings um den in solchen Fällen üblichen Preis des Verlustes aller begrifflichen Trennschärfe und des Vergessens seiner genauen Herkunft und ursprünglichen Zweckbestimmung. Mittlerweile gibt es zwischen den vielfältigen Formen und , Regeln' des Gebrauchs von "etic" und "emic" von der soziologischen Gesprächsanalyse über die Psychologie bis hin zur Kulturanthropologie allenfalls noch eine gewisse Familienähnlichkeit, und selbst sprachwissenschaftliche Fachlexika vermögen nicht mehr zuverlässig über Herkunft und Bestimmung dieser Termini zu unterrichten.
Angesichts dieser terminologisch verwirrenden und höchst unbefriedigenden Situation ist die nun von Christina Hahn vorgelegte Studie ein Desideratum vieler Disziplinen und keineswegs nur der Sprach- und der Kommunikationswissenschaft. Dies um so mehr, als es sich hierbei nicht nur um einen höchst instruktiven Beitrag zur Begriffs- und Wissenschaftsgeschichte handelt, sondern zugleich um die durch Kontrastierung und Vergleich geförderte Klärung aktueller kommunikationswissenschaftlicher Begriffe und Fragestellungen.
Kenneth L. Pike hatte in seinem bedeutenden Werk Language in Relation to a Unified Theory of the Structure of Human Behavior von 1954 die Termini "emic" und "etic" ursprünglich eingeführt, um damit zwei Perspektiven auf seinen sprachwissenschaftlichen Gegenstand zu benennen. Von hier aus begannen die Termini und die durch sie bezeichneten Begriffe jedoch nicht nur bei Pike selbst, sondern darüber hinaus insbesondere in der amerikanischen Anthropologie, der Linguistik und einigen Sozialwissenschaften in ganz unterschiedliche Richtungen verlaufende Karrieren, die auch 50 Jahre später noch nicht beendet zu sein scheinen.
Ausgehend von ihrer Anfangsfrage, ob die beiden genannten Termini vielleicht etwas Ähnliches oder gar das Gleiche bezeichnen wie das, was Gerold Ungeheuer für die Phonetik und die Kommunikationswissenschaft mit seinen Termini "kommunikative" und "extrakommunikative Betrachtungsweisen" unterschieden hat, untersucht Christina Hahn hier die Herkunft, die Entwicklung sowie die Verbreitung der Termini und der durch sie bezeichneten Begriffe. Dabei ist ein Eckpunkt ihrer Untersuchung bestimmt durch das gesamte Werk von Pike, wo die Überlegungen zur Etic-Emic-Unterscheidung ihren Ausgang nahmen, ein anderer durch eine im Jahre 1988 geführte öffentliche Debatte zwischen Pike auf der einen und einer Reihe von Anthropologen, Psychologen und Philosophen auf der anderen Seite über die von Pike eingeführte begriffliche Differenzierung und ihre je unterschiedlichen Nutzungen in einzelnen Forschungsrichtungen bei verschiedenen Autoren. Zwar reicht die Literatur weit über diese beiden Eckpunkte hinaus, und es wäre die Aufgabe von wenigstens zwei Dissertationen, die gesamte internationale Debatte zu dieser Thematik aufzuarbeiten, doch es gelingt Christina Hahn durch ihre geschickt gesetzten Schnitte, nicht nur das Wesentliche der Debatte einzufangen, sondern vor allem die entscheidenden Grundlagen und ihre Wandlungen bei Pike selbst sorgfältig und präzise, stets an den Originaltexten orientiert zu rekonstruieren, in ihrer stufigen Entwicklung nachzuzeichnen, in ihre intellektuellen und biografischen Zusammenhänge einzuordnen, zu deuten und vor allem auch noch kritisch zu werten.
Dem schwierigen Problem der in die historische Entwicklung der Debatte zu legenden Schnitte entspricht auf der anderen Seite das Problem, einen geschickten Aufbau für die Darstellung der zahlreichen Untersuchungsschritte zu finden. Christina Hahn hat es hervorragend gelöst. Ihr Buch ist ein gut lesbares Ganzes geblieben, in dem der Leser trotz der zahlreichen Details, trotz der vielfältigen Text- und Begriffsanalysen und trotz der zahlreichen notwendigen Perspektivenwechsel stets orientiert bleibt und geleitet entlang dem roten Faden der Argumentation:
Die ausführliche Einleitung führt nicht nur hin zu den leitenden Frage- und Problemstellungen, sondern sie bestimmt auch Christina Hahns eigenen Standpunkt, sie rechtfertigt methodische Entscheidungen wie etwa die Literaturauswahl, und sie gibt schließlich einen Überblick über den Aufbau des folgenden Textes. Dessen Hauptteil, "Innensichten" überschrieben, widmet sich der Rekonstruktion von Pikes Positionen im Wandel der Zeit und der Arbeiten. Dabei sind die einzelnen Kapitel so aufgebaut, dass sie nach allgemein orientierenden Einleitungen nacheinander Texte analysieren und in ihren entscheidenden Begrifflichkeiten explizieren, ehe schließlich eine in jedem Fall höchst eigenständige Kritik nicht nur Ergebnisse zusammenfaßt, sondern auf einer Meta-Ebene zu Analysen und Bewertungen kommt. Hier werden denn auch Bezüge zur Kommunikationswissenschaft oder zu besonders interessierenden nebengeordneten Fragestellungen hergestellt und diskutiert. Eine Sonderstellung nimmt dabei gewiß das sechste, "Verschränkungen" genannte Kapitel ein. In einer Art Rückblick werden Pikes Leben und Werk betrachtet, Zusammenhänge und durchgängige Grundorientierungen werden herausgearbeitet, um schließlich eine Art von Zwischenbetrachtung anzustellen, in der dem Leser nochmals eine zusammenfassende und kritische Bestandsaufnahme als Fundament gegeben wird, ehe Christina Hahn dann unter der Teil-Überschrift "Außensichten" den Leser mit den recht unterschiedlichen Rezeptionen der Pike'schen Differenzierung konfrontiert, die in der amerikanischen Anthropologie, der Ethnographie der Kommunikation, der Cross-Cultural Psychology wie auch der Philosophie stattgefunden haben. In "Ansichten. Einsichten?", dem letzten Teil der Studie, wird dann die Lage nach dem öffentlichen Symposium über etic und emic noch einmal skizziert, um schließlich die im Zuge der Untersuchung gewonnenen Einsichten zusammenzutragen, die sich einerseits der Darstellung von Pike als dem Initiator und den anderen Positionen innerhalb der Debatte entnehmen lassen und sich andererseits als Konsequenzen ergeben aus dem Verlauf und den Ergebnissen der Emic-Etic-Debatte.
Um das Gewicht und die Erträge der vorliegenden Studie angemessen bewerten zu können, muß man sich die Vielfalt der Disziplinen vor Augen halten, die hier berührt werden, deren Grundlagen und Methodologien ebenso zur Diskussion stehen wie spezielle Begrifflichkeiten. Und selbst wenn man sich nur auf das Werk von Pike konzentriert, so ist es doch kein einheitlich sprachwissenschaftliches Werk, das ohne Wenn und Aber einer klaren linguistischen Strömung zuzuordnen wäre, sondern es weist vielerlei eigene Facetten, Bezüge zu unterschiedlichen Lehrern und Nachbarautoren, zur Praxis, zur Missionsarbeit, zu Pikes Theismus, zur Anthropologie etc. auf. Alle diese Bezüge richtig einordnen, deuten und bewerten zu können, verlangt mehr als einfache Textanalyse. Es setzt Hintergrundwissen, methodisch vorsichtige und sorgfältige Arbeit und vor allem einen gesicherten eigenen Standpunkt voraus. Alle diese Voraussetzungen bringt Christina Hahn mit, ohne dabei in ihren Formulierungen oder Gedanken schwerfällig zu werden, und genau das ist es auch, was an dieser Untersuchung insgesamt so besticht und überzeugt: Exakt dort, wo der Fehler bei den von ihr behandelten Autoren und in den von ihr analysierten Rezeptionsprozessen liegt, da liegt ihre eigene Stärke, das, was sie von anderen fordert, erfüllt sie in der Tat auch selbst. Von daher verwundert es nicht, daß die folgenden Zeilen, die Christina Hahn im Rückblick auf die analysierten Rezeptionsprozesse und die daran beteiligten Autoren formuliert hat, im positiven Sinne auf sie selbst bestens zutreffen und damit zugleich die Hauptstärke ihres Buches charakterisieren:
"Es wird wohl auf Dauer nur der nicht die Orientierung im interdisziplinären Diskurs verlieren, der sich immer wieder seiner eigenen Problemstellung bewußt wird. Was beinhaltet eine solche Vorgehensweise? Die eigene Problemstellung - und das meint nicht eine private, sondern die Problemstellung der eigenen Disziplin - ist es, die darüber orientiert, vor welchem Hintergrund und mit welcher Zielsetzung die andere(n) Disziplin(en) befragt werden sollen. [...] Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist ein sorgfältiger Nachvollzug der Begriffsarbeit, die bereits geleistet worden ist. So kann man die angestrebte und mögliche Reichweite der jeweiligen Theorie ebenso besser einschätzen wie das Bündel an Grundannahmen, die man bei der Übernahme von Fragen, Konzepten und Theorien möglicherweise mit übernimmt. So klärt man an der eigenen Problemstellung die Übertragungsvoraussetzungen. Erst danach entscheidet sich, ob das Konzept oder die Theorie für die Lösung des eigenen Problemes genutzt werden kann." (S. 176)
Einem solchen Buch wünscht man gerne viele wache Leser!
H. Walter Schmitz
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