Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse
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«Wie in keiner Epoche zuvor betreibt unsere Zivilisation ihre Selbsthistorisierung - musealierend und archivarisch, mit den Mitteln des Denkmalschutzes sowie in den Geschichtswissenschaften aller Sparten. Dieses Buch macht plausibel, wieso das so ist.» Hermann Lübbe
Die historischen Kulturwissenschaften - die deutschkulturell sogenannten Geisteswissenschaften - sind jünger als die Naturwissenschaften. Methodisch und institutionell verselbständigen sie sich bekanntlich erst seit der Aufklärung um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, begünstigt vom Publikumsinteresse wie von kulturstaatlicher Förderung in Universitäten und Schulen sowie in Einrichtungen der Vergangenheitsvergegenwärtigung von den Museen bis zur Denkmalpflege.
Begleitet wird die Geschichte der historischen Wissenschaften von einigen zählebigen Selbstmissverständnissen, die in diesem Buch beschrieben und zurechtgerückt werden. Das erste dieser Missverständnisse will wissen, «Geschichte» sei ein Charakteristikum humaner Kultur, während die «Natur» uns die Erforschung ihrer gesetzmäßig sich wiederholenden Abläufe abverlange. Das steht aber im Widerspruch zum Faktum, dass die Historizität der Natur ungefähr gleichzeitig mit der Geschichtlichkeit humaner Kultur entdeckt und thematisiert worden ist. Der Begriff der Geschichte, den man für Verständnis und Beschreibung dieses wissenschaftshistorischen Faktums benötigt, wird in diesem Buch analytisch erarbeitet und geklärt - exemplarisch an Gegebenheiten, «die sich nur historisch erklären lassen». In einem zweiten Selbstmissverständnis, das gleichfalls schon dem 19. Jahrhundert entstammt, im 20. Jahrhundert dann ideologiepolitisch Weltgeschichte gemacht hat, war den historischen Wissenschaften zugemutet, der «Gesetzmäßigkeit» des Geschichtsprozesses auf die Spur zu kommen und mit der damit verbundenen Entdeckung des «Ziels» der Geschichte dieses Ziel in kritischer Parteilichkeit moralisch-politisch verbindlich zu machen. Diese Ideologie hat bis in die Gegenwart hinein praktische Folgen gehabt. Für das historische Verständnis dieser Folgen ist man nicht zuletzt auch auf eine analytische Theorie dessen angewiesen, was historisches Wissen überhaupt leisten kann, und das vorliegende Buch bemüht sich um diese Theorie.
Bis heute ist, zumal in der Intellektuellenkultur, das nietzscheanische Missverständnis wirksam, historisierende Vergangenheitsvergegenwärtigungen könnten uns zukunftsscheu machen. Das stellt die tatsächlichen Wirkungszusammenhänge auf den Kopf. Die Innovationsträchtigkeit unserer hochdynamischen Zivilisation ist es doch, die in vielen Lebensbereichen die Veraltensraten ansteigen lässt. Avantgardismen von heute füllen die Museen von morgen. Die Selbsthistorisierung unserer Kultur wird zu einem Medium disziplinierungsfähiger wechselseitiger Selbstmitteilung. Die Analyse und Veranschaulichung dieser Zusammenhänge von zivilisationsrevolutionärer Dynamik und Historisierung ist die Hauptabsicht dieses Buches.
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