Ein Bild der Hemmung und Enthemmung
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Die vorliegende Veröffentlichung beleuchtet die neuen Stücke der Pariser Theater im Jahr 1730, sofern sie veröffentlicht wurden. Wirft man einen Blick voraus auf diejenigen von 1760 und 1790, so mag man jetzt durchaus von Biederkeit und Zurückhaltung sprechen: Die Figuren des leichten Genres suchen mehrheitlich die Harmonie mit sich und mit den anderen, überwinden persönliche Bescheidenheit und Hemmungen, Unentschlossenheit, Unsicherheit, Schwankungen nur allmählich - man könnte auch von willentlicher Dichotomie, intentioneller Hybridität reden, und Marivaux sorgt mit Le Jeu de l¿amour et du hasard diesbezüglich für einen kernigen Auftakt -, richten sich letztendlich an zeitloser Schönheit und Moral aus, nicht ganz ohne eine Spur der Pédanterie, verhelfen dem zeitlos Guten zum Sieg, hier vor allem die Figuren der Foire, zeigen sich durchweg apolitisch, dringen nur verhalten in die Gesellschaft ihrer Zeit ein, und Spott prägt gewiss nicht das Gesamtbild, Derbes noch viel weniger. Auch das eher schwere Genre erweist sich durchaus als bieder, lobt Ludwig XV., drückt seine Freude über den neugeborenen Dauphin aus, zeigt sich bibelnahe, setzt Themen an, die Jahrhunderte von der eigenen Zeit entfernt sind, und verbindet diese mit weitgefasstem aufgeklärtem Gedankengut. Mag dieses dann auch der Spitze beraubt sein, so trägt es doch ebenfalls ein Flair der oberlehrerhaften Vermittlung an sich, wirklich in die Politik und Gesellschaft seiner Zeit dringt es jedoch nicht ein. Vor allem stellt uns auch dieses eher ernste Genre Figuren auffallender intentioneller Hybridität, Figuren der Irrésolution, des inneren Kampfes vor, zu nennen hier vornehmlich Brutus aus der Feder Voltaires.
Alles in allem ist die Szene 1730 recht kurz, die Figuren damit ziemlich , unstet', sie gehen relativ früh ab und andere treten recht rasch auf, der personelle Fluss ist somit ausgeprägt, die Bühne erweist sich erwartungsgemäß dann pro Szene auch als dünn bevölkert, die Regie ist zudem oftmals frappant unterentwickelt.
All das verändert sich bereits 30 Jahre später, zumindest in den Premieren. Biederkeit weicht dem Spott, ehedem nur punktuell spürbar, und dem Derberen, die Parade wird häufiger, politische und gesellschaftsspezifische Zurückhaltung weicht dem Amüsement an einer dekadenten Sozietät. Kein Stand, kein Beruf bleibt verschont, die Philosophen der Zeit werden besudelt, das Theater macht sich lustig über sich selbst, besonders über den bedauerlichen Zustand der Tragödie. Die Verrücktheit, La Folie, avanciert zur Königin der Bühne, natürlich auch in personifizierter Form. In der Tat bliebe das schwere Genre noch mehr eine Quantité négligeable, wäre da nicht auch Voltaires Tancrède.
Die Szene ist 1760 länger, der personelle Fluss wird abgebremst, die Bühne erweist sich als dichter bevölkert, die Regie wird alles in allem üppiger.
So namhafte Autoren wie die Genannten werden unter denjenigen der Neukreationen des Jahres 1790 nicht mehr zu finden sein. Weniger bekannte Autoren, neue Bühnen, neue Truppen, neue Genres, diesbezüglich vor allem das Nationaldrama, werden in Erscheinung treten. Zeigte die Bühne des Jahres 1760 zumindest noch politische Zurückhaltung, so wird die Politik, mehr noch als die Gesellschaft, im ersten postrevolutionären Jahr zum allumspannenden Thema, zunächst nur indirekt, unter einem zeitverschobenen Vorhang, ab dem ersten Föderationsfest jedoch abrupt direkt und zeitnah. Prägte 60 Jahre zuvor noch ein gehemmtes Psychogramm, das Wollen und Nicht-Wollen, das Vor und Zurück die Figuren, so weicht dieses nunmehr dem gesicherten Wollen und der emotionalen Hypertrophie, und sturzbachartig gestaltet sich, mehr als nur ein einziges Mal, in optischer und akustischer Hinsicht die Bühne.
Die Szene wird denkbar kurz, die Figuren sind , unsteter' als je zuvor, und doch nimmt die Bühnenbevölkerung drastisch zu, die Regie avanciert mitunter zu einem Spektakulum.
Die vier Bände zu den Premieren der Jahre 1760 und 1790 wurden im gleichen Verlag in den Jahren 2010, 2012, 2016 und 2018 veröffentlicht. Der Autor ist als Studienrat in Diensten der Universität des Saarlands tätig. Für seine Veröffentlichungen verbringt er regelmäßige Aufenthalte in der Nationalbibliothek in Paris.
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